Hessischer Bildungsserver / Arbeitsplattformen

Lesestrategien

Die Lesestrategien gehören zur so genannten kognitiven Dimension (s. Grafik in der Einleitung). Hier kann auch von einer Werkzeugkiste oder dem so genannten „mental tool belt“ gesprochen werden, die den Schülerinnen und Schülern an die Hand gegeben werden, damit sie die jeweils passenden Methoden und Strategien wählen und einsetzen können.

Hier liegt der Schwerpunkt des Lesetrainings, denn nur wenn jeder Schüler und jede Schülerin den eigenen Leseprozess strukturiert, die Methoden textangemessen einsetzt und das Verständnis alleine oder in der Gruppe überprüft, wird er oder sie zu einem autonomen Leser.

Das Lesen kann in seine einzelnen mechanischen Abläufe aufgeteilt werden, grob gesprochen in die drei Phasen vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen. Diese gestalten sich wie folgt:

  

Vor dem Lesen:

Wenn man sich einem Text nähert, geschieht dies mit unterschiedlicher Routine. Kenne ich das Thema, sagt es mir etwas, habe ich dazu Vorwissen? Was erwarte ich von dem Text? Ist mir die Textsorte vertraut, kann ich sie einordnen? Handelt es sich um einen linearen oder non-linearen Text? Ist es ein Sachtext oder ein fiktionaler? Aus welcher Epoche stammt der Text, kenne ich vergleichbare Texte? Ich habe eine bestimmte Erwartungshaltung an einen Kriminalroman, an einen Zeitungskommentar, an eine Grafik oder ein Diagramm. Routinierte Leserinnen und Leser ordnen den Text in ihre Texterfahrungen ein, d.h. sie entwickeln ihm gegenüber auch eine gewisse Erwartungshaltung. Diese gilt es im Unterricht zu schulen. Es gibt Indikatoren (Textschemata), die auch fachlich helfen, den Text einzuordnen. So verweist zum Beispiel eine Aneinanderreihung von Aufforderungen auf ein Experiment oder eine andere Anleitung. Nach dem ersten Überfliegen des Textes können dann Parallelen zu vertrauten Textsorten hergestellt werden, z.B. zu Kochrezepten, Spielanweisungen etc.Diese ersten Beobachtungen vollziehen sich eher auf der phänomenologischen Ebene: Was fällt mir auf, was erkenne ich wieder, was habe ich schon einmal so oder so ähnlich gelesen?

Die Fragen, warum der Text gelesen werden soll, warum er von Bedeutung ist, werden auch vor dem Lesen verhandelt. Durch die persönlich und individuell verschiedenen Leseinteressen und -motivationen werden wiederum persönliche und individuelle Herangehensweisen an den Text herausgearbeitet. Diese bieten sich für andere Schülerinnen und Schüler an, indem sie neugierig machen und die Lesemotivation steigern. Das Sprechen über Leseerfahrungen und -erwartungen wertet den Text auf, macht ihn interessant und bietet den Schülerinnen und Schülern einen Zugang zu ihm. Der Text wird bedeutsam. Der Austausch darüber ist nutzbringend für die gesamte Lerngruppe, der Lernfortschritt wird greifbar, gesichert und kann gesteigert werden, wenn die einzelnen Schritte betrachtet und reflektiert werden. Das Sprechen über das Lernen und hier über das Lesenlernen ist Voraussetzung für einen nachhaltigen Leselernprozess. Daraus ergibt sich quasi selbstverständlich ein neuer Blick auf die Aufgaben, die die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern stellt oder mit ihnen entwickelt. Die Aufgabenformate spielen von daher eine wesentliche Rolle beim Leselernprozess.

 Während des Lesens:

Kein Text wird sich den Schülerinnen und Schülern erschließen, wenn sie nicht in Kontakt mit ihm treten. Dazu eignet sich die Methode des Lauten Denkens, bei der die Leserinnen und Leser persönliche Bezüge zum Text herstellen, sich ihn stückweise aneignen und sich mit ihm auseinandersetzen.

 Wenn man sich dann dem Text nähert, ihn genauer und absatzweise liest, gibt es vier Strategien, die helfen, ihn zu erschließen: Vorhersagen treffen und überprüfen, Fragen an den Text stellen, Zusammenfassen und Probleme klären. Dies sind die vier Elemente des Reziproken Lehrens und Lernens, die helfen, den Text zu knacken und zu verstehen.Tatsächlich lesen geübte Leserinnen und Leser ohnehin so, das heißt sie haben eine Idee, worum es sich handeln könnte und überprüfen diese immer wieder. Parallel dazu fassen sie zusammen, was sie gelesen haben und verknüpfen es mit neuen Textinformationen. Beim Lesen klären sie aufkommende Fragen, indem sie sie kontextuell beantworten oder überlesen, weil es für das Verständnis des kompletten Textes nicht so bedeutsam ist, jede Unklarheit zu verstehen.Dies ist natürlich abhängig von der Textsorte. Gedichte als sehr komplexe und dichte Texte bedürfen genauer Erklärungen einzelner Begriffe, die sich nicht sofort erschließen, weil sie ihrem gewohnten Sinnkontext entrissen sind. Über die neue Bedeutung, die eigentliche oder textimmanente Bedeutung, verhandeln wir beim Lesen, stellen Thesen auf, verwerfen diese, lesen rückwärts, überspringen, stellen Bezüge her.

Schüler und Schülerinnen brauchen hierbei so genannte Haltegeländer („Scaffolding“), die sie anleiten, bestimmte Fragen in einer klar definierten Reihenfolge an den Text zu stellen.Dieser dialogische Umgang mit dem Text muss geübt werden. Hierzu eignet sich das ritualisierte Verfahren des Reziproken Lehrens und Lernens nach Palincsar und Brown. Jeder Schüler und jede Schülerin erhält eine festgelegte Rolle mit Rollenkarte, die die Fragen an den Text und das Vorgehen beim gemeinsamen Lesen steuern. Erst nachdem Fragen an den Text gestellt wurden, soll dieser zusammengefasst werden. Hierbei werden bereits einige Verständnisprobleme geklärt, ansonsten im Anschluss daran. Beim Lesen geht es dann um Zusammenhänge, um den Handlungsstrang, um den roten Faden. Diesen zu verfolgen hilft insbesondere die Technik des Vorhersagens und die Überprüfung der getroffenen Vorhersagen. Indem ein Schüler oder eine Schülerin eine Vermutung über den Text aufgrund der Überschrift äußert oder über den weiteren Text nach der Lektüre des ersten Absatzes, übernimmt er oder sie Verantwortung für den Text und entwickelt eine zielgerichtete Neugier.

Lesen ist kein Selbstzweck. Aufträge wie „Lies den Text und fasse ihn zusammen“ bleiben reine Pflicht, wenn nicht deutlich wird, dass der Textinhalt wesentliche und bedeutsame Erklärungen oder Informationen zum Verständnis von Welt anbietet. Der Text erweitert das fachliche ebenso wie das persönliche Wissen, es muss vernetzt werden mit Vorwissen und den Kenntnissen über das Fach und das Lesen in diesem Fach, hier tritt die wissensaufbauende Dimension des Lesens ins Feld des Unterrichts.

An dieser Stelle spielt die freie Lesezeit eine wichtige Rolle. Zusatztexte auf unterschiedlichem Niveau ermöglichen eine tiefere und individuelle Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Thema.

Selbstverständlich geht es dabei nicht nur um die Menge des Gelesenen, sondern auch um das genaue Lesen, also um die permanente Überprüfung, ob der Inhalt des Textes verstanden wurde.Die Schülerinnen und Schüler reflektieren ihre Vorgehensweisen, überprüfen ihre Lesefähigkeiten, denken über den Text nach. Sie können ihre Lesestrategien sichtbar machen, diese ihren Mitschülerinnen und Mitschülern vermitteln und gemeinsam anwenden.

 Nach dem Lesen:

Erst nach dem Lesen sollte über den Text hinaus gearbeitet werden. Dies stellt im herkömmlichen Literaturunterricht mittlerweile den größten Part dar. Die Arbeit mit Anregungen aus dem Text, z.B. handlungs- und produktionsorientierte Herangehensweisen, entfernt sich allerdings oft sehr schnell vom eigentlichen Textkorpus. Deshalb ist das kontrollierte und genaue Lesen und Erlesen des Textes die Voraussetzung für gelungene Textarbeit.  - Dazu stellen wir zwei Methoden vor:

 Zum einen die Frage-Antwort-Beziehung (engl.: QAR = Question-Answer-Relation), die es den Schülerinnen und Schülern ermöglicht, sich auf vier Niveaustufen nach dem Lesen mit dem Text zu befassen und ihn besser zu verstehen. Diese unterschiedlichen Schwierigkeitsgrade orientieren sich übrigens an den PISA-Kompetenzstufen und ermöglichen eine einfache und transparente Differenzierung in heterogenen Lerngruppen.

 Zum anderen lernen sie die unterhaltsame und effektive Methode des ABCdariums kennen, das in unterschiedlichen Klassen und Fächern sehr erfolgreich eingesetzt wurde.

Fazit: Es geht bei der „Leselehre“, die Sie in diesem Kapitel kennen lernen, darum, den Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass man in jedem Alter und in jedem Fach lesen lernen kann. Sie sollen befähigt und motiviert werden, die Verantwortung für ihr Lesen und Lesenlernen zu übernehmen. Die Lehrperson leitet an, führt vor, demonstriert, begleitet und überprüft, zieht sich jedoch zunehmend zurück. Das Lesen wird nicht mehr angeleitet, sondern ausgeübt. So wie man Autofahren übt und dabei die einzelnen Hand- und Fußbewegungen bewusst lernt und ausführt, so geschieht dies auch beim Lesen. Und so wie man schließlich automatisch fährt, schaltet, blinkt und lenkt, so automatisiert sich auch das Lesen. Das funktioniert!

 J. Jasper, AfL 2010