Vorwort der Kultusministerin Karin Wolff
Ernst Schneider
"Es gibt schmerzhafte Erinnerungen, die uns wirklichen, körperlichen Schmerz verursachen: fast jeder Mensch hat solche Erinnerungen, nur vergessen die Menschen sie gewöhnlich. Aber dann geschieht es bisweilen, dass sie ihnen plötzlich wieder ein fallen, wenn es auch nur irgendein kleiner Zug ist, der ihnen einfällt und dann können sie die Erinnerungen nicht mehr abschütteln", schrieb einst Fjodor M. Dostojewski in "Der Jüngling".
"Irgendein kleiner Zug" war es auch, den die Geschichtswerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule "nicht mehr abschütteln" konnte und der beispielgebenden wissenschaftlichen Ehrgeiz weckte: Das tragische Schicksal des Heppenheimers Ernst Schneider, der infolge einer Denunziation im Zweiten Weltkrieg zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. Die prämierte Forschungsarbeit "Ernst Schneider - ein Wegweiser?" ist mehr als ein regionalgeschichtlich verflochtener exponierter Puzzleteil der Geschichte des totalitären Unrechtsstaates; sie ist ein in dieser methodisch klugen und effektiven Vorgehensweise ungewöhnlicher und deshalb umso wertvollerer Querschnitt durch das gesamte NS-Unrechtssystem, der in Recherche-Qualität und Quellenbreite allen fachwissenschaftlichen Standards gerecht wird. So verwundert es keineswegs, dass die Forschungsarbeit im Rahmen des Wettbewerbs "Protest in der Geschichte" um den Preis des Bundespräsidenten mit einem beachtlichen vierten Preis ausgezeichnet wurde.
Blickt man entsetzt auf das Lebensende des Ernst Schneider und die Umstände, die zu seiner Hinrichtung führten, fragt man sich wieder aufs Neue: Wann begann eigentlich die Geschichte des "Dritten Reiches" und wo? In Berlin am 30. Januar 1933, als das erste Kabinett Hitler auf die Weimarer Verfassung vereidigt wurde? Oder hatte die Geschichte des "Dritten Reiches" vierzehn Jahre zuvor auf der Friedenskonferenz in Paris begonnen? Paris 1919 wurde nicht Wien 1814. Kein zweiter Wiener Kongress ordnete die Welt und gründete das Konzert der Mächte. Im Zeitalter der Ideologien, der Massendemokratie und des industriellen Großkriegs konnte es schwerlich anders sein. Die Folgen aber: Weder konnte Frankreichs Hegemonie, gestützt auf schwache Bündnispartner in Ost-Mittel-Europa und die erschöpfte Kriegsallianz mit Großbritannien, dem Kontinent dauerhafte Ordnung geben, noch gab es ohne und gegen Deutschland und die Sowjetunion ein System kollektiver Sicherheit durch den neuen Völkerbund. Die USA. die durch ihren Kriegseintritt die Entscheidung herbeiführten, zogen sich 1919/1920 von Europa zurück, unwillig, die Nachkriegsordnung zu garantieren. Wenn aber keine wirkliche Macht hinter dieser Ordnung stand, dann war sie nichts als eine leere, bedrohliche Geste, die den Keim ihrer eigenen Zerstörung in sich trug. Alles, was vor 1933 geschehen war, zeigte die Schwäche der Friedensschlüsse von 1919, darin eingeschlossen der Vertrag von Versailles. Und alles, was seit 1933 geschehen sollte, zeigte, dass der prekäre Friede, wenn nicht ein Wunder geschah, nichts gewesen war als der Übergang zu neuen Kriegen und noch größeren Katastrophen. Oder kam das "Dritte Reich" aus der Krise der bürgerlichen Zivilisation mit ihren Parlamenten, ihrem Fortschritts- und Vernunftglauben, ihrem Vertrauen auf den Staat und ihrer Hoffnung auf einen vernünftigen Geschichtsplan? Warum konnten die bürgerlichen Demokratien vor 1919 nicht, angesichts der Schrecken des Krieges und der bolschewistischen Revolution, wie die Adelswelt des Wiener Kongresses angesichts der Französischen Revolution, ein Kartell der aufgeklärten Selbstinteressen bilden gegen die Propheten des Bürgerkriegs und der Weltherrschaft? Hatte Nietzsche sie nicht gewarnt Richard Wagner sie nicht alarmiert, Sigmund Freud sie nicht beunruhigt? Hatte die Faszination von Niedergang und Dekadenz sie nicht wachgemacht gegen die Revolte, die sich zusammenbraute gegen Industriestaat und Modernität?
Die zivilisationskritische Kultur der Jahrhundertwende war durch den Krieg zur Heilslehre aufgestiegen. Die Geschichte selbst hatte dem Faschismus Italiens, den antidemokratischen Strömungen Frankreichs, dem antimodernistischen Aufbruch der Deutschen vorgearbeitet. In den Schriften von Sorel bis Pegoy, in den Theorien der Eliten von Mosca, Pareto und Michels, im revolutionären Syndikalismus und all den politischen und intellektuellen Sehnsüchten, die seit dem Beginn des Jahrhunderts den neuen Start und den neuen Menschen erträumten, lagen Symptome einer großen Krise, auch wenn sie bis 1914 die politischen Strukturen noch kaum erfasste. Aber in Kunst und Literatur. Architektur und Stadtplanung entwarf sie längst das Bild neuer Welten. So wurden die zwanziger Jahre in ganz Kontinental-Europa die Epoche des Faschismus und der Frühling der Demokratien dauerte nicht lange.
Oder muss man für die Geschichte des "Dritten Reiches" vor allem die Geschichte eines Mannes untersuchen, Beamtensohn aus kleinbürgerlichem Milieu, hasserfüllter Aussenseiter der zerfallenen K. u. K.-Monarchie, ewiger Versager, Gelegenheitspostkartenmaler, der den Beginn des Ersten Weltkriegs als Erlösung und die bolschewistische Revolution als Weltbedrohung erlebte, Adolf Hitler? Hitlers Weltanschauung hat ihre Wurzeln in dem Hass auf die Welt vor 1914, im Trauma der leninschen Revolution und in der Revolte gegen die zivilisatorische Modernität seiner Epoche. Lange bevor Hitler den Zweiten Weltkrieg begann, hatte er allem den Krieg erklärt, was das zwanzigste Jahrhundert prägte: Der Demokratie, der Technik, der Gesellschaft, der Menschlichkeit und damit auch Ernst Schneider. Ich beglückwünsche abschließend alle Schülerinnen und Schüler der Geschichtswerkstatt der Geschwister-Scholl-Schule unter Leitung von Peter Lotz und Franz Josef Schäfer für dieses umfangreiche Forschungsjuwel.
Karin Wolff, Hessische Kultusministerin