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Bilingualität und Erziehung

Vortrag über Konzepte im Elsass (2005)

Dieser Beitrag ist abgelaufen: 31. März 2006 00:00

Auf der Fachtagung "Frühe Förderung - Lernen von Europa", (10./11. Juni 2005, Köln) hielt Pascale Woessner von der sozialpädagogischen Fachhochschule CFEJE in Straßburg einen Vortrag zu Konzepten bilingualer Erziehung. In ihm geht es um zweisprachige, deutsch-französische Kindergärten und Grundschulen sowie um Einrichtungen in Straßburg, wo Eltern und Kinder sich zum gemeinsamen Spiel und Austausch treffen können.

Vortrag über Bilingualität und Erziehung

Pascale WOESSNER

Guten Tag, ich heiße Pascale Woessner und komme von der sozialpädagogischen Fachhochschule CFEJE in Straßburg, die Erzieher ausbildet. Ich möchte mich zuerst für die Einladung zu dieser Tagung bedanken und speziell bei InWEnt und Dagmar Ouzoun von der sozialpädagogischen Fachschule in Braunschweig, mit der unsere Schule eine Partnerschaft hat. Man hat mich gebeten, über unsere aktuellen Projekte zu sprechen; insbesondere was zweisprachige Erziehung (Bilingualität) anbelangt. Ich möchte das Thema anhand von zwei unserer Projekte ansprechen :

· Erstens, das Konzept von ABCM, das ist ein Verein der, zweisprachige, deutsch- französische Kindergarten und auch eine Grundschule anbietet.

· Zweitens, das Konzept "Lieux d'accueil parents-enfants", der Stadt Straßburg: Hier handelt es sich um Einrichtungen, wo Eltern und Kinder sich zum gemeinsamen Spiel und Austausch - untereinander und mit sozial und pädagogisch geschultem Personal - treffen können.

Was verstehen wir unter dem Begriff Zweisprachigkeit (Bilingualität)?

Es ist die Fähigkeit, sich in allen Lebenssituationen mündlich oder schriftlich fließend in zwei Sprachen ausdrücken und verständigen zu können. Kommen wir zu dem Konzept ABCM. (Die Hintergründe) Im Elsass gibt es einen regionalen politischen Willen, schon vom Kindergarten an (école maternelle bei uns) zweisprachigen Unterricht anzubieten und zu entwickeln, damit die Kinder beide Sprachen gleichermaßen beherrschen lernen. Auf Anfrage einer Elterngruppe kann ein Bürgermeister ein Informationstreffen organisieren, aus dem sich die Möglichkeit ergibt, eine zweisprachige Gruppe oder einen Kindergarten zu gründen. Der elsässische Dialekt hat viel Ähnlichkeiten mit dem Deutschen. In den achtziger Jahren wünschten sich viele Familien, in denen noch Elsässisch gesprochen wird, die Möglichkeit für ihre Kinder, eine zweisprachige Schule zu besuchen. Sie waren und sind davon überzeugt, dass Zweisprachigkeit eine Chance für ihre Kinder bedeutet, sowohl in kultureller als auch in beruflicher Hinsicht. So ist 1991 der Verein ABCM entstanden. Der Elternverein hat für die Gründung des ersten zweisprachigen Kindergartens gekämpft und in diesem Zusammenhang natürlich auch nach spezifischen pädagogischen Ansätzen gesucht. Seither hat ABCM mehrere weitere Kindergärten und Grundschulen gegründet.

Der pädagogische Ansatz "Zweisprachigkeit" stützt sich auf zwei Grundprinzipien des Psycholinguisten Jean Petit:

· Erstens, die Erkenntnis, dass Zweisprachigkeit sich um so natürlicher entwickelt, je früher die entsprechende Erziehung beginnt: Mit drei Jahren lernt ein Kind eine zweite Sprache ebenso intuitiv und natürlich wie seine Muttersprache. Die Sprache wird durch das Spiel vermittelt. Sie wird sofort als Kommunikationsmittel erlebt und nicht als Lerninhalt. Das Kind lernt sprechen - und erlernt somit eine Sprache - aus Neugier und aus Interesse am Spiel.

· Zweitens, die beiden Sprachen sollten systematisch von zwei verschiedenen Erziehern oder Lehrern angeboten werden.

Pädagogische Umsetzung

Pro Woche werden 13 Stunden auf Deutsch und 13 Stunden auf Französisch unterrichtet.

Diese Parität wird aus mehreren Gründen für wünschenswert gehalten:

· Zunächst muss die jeweilige Sprachumgebung "dicht" genug sein, damit die natürlichen Lernmechanismen sich in Gang setzen können.

· Dann ist es auch sehr wichtig, die Sprache in verschiedenen Situationen zu "erleben".

· Und schließlich garantiert die Parität für jede Sprache den gleichen sozialen Status und die gleiche Wertigkeit.

Die beiden Pädagogen sind nie gleichzeitig da; sie repräsentieren ja jede ihre eigene Sprache. Diese Unterscheidung durch die Person soll den Kindern die Unterscheidung der Sprachen erleichtern, über die Wahrnehmung, dann die Strukturierung und schließlich die klare Identifizierung der beiden Sprachen. Die Kinder kommen vier Tage pro Woche in den Kindergarten; sie werden an zwei Tagen von einer deutschen Erzieherin und an den beiden anderen Tagen von einer französischen Fachkraft betreut. Wir gehen davon aus, dass das Eintauchen in eine andere Sprache über einen ganzen Tag notwendig ist, damit die Kinder Zeit haben, die sprachliche Umgebung in sich aufzunehmen und sich völlig auf sie einzulassen. Jede Erzieherin vertritt ihre eigene Muttersprache. Sprache gibt uns die Möglichkeit, zu lernen, zu erleben und zu fühlen. Die Sprache ist kein Schulfach wie jedes andere, weil mit der Sprache immer auch kulturelle Werte zusammenhängen und vermittelt werden. Ein Kind nimmt die Sprache mit seinem ganzen Wesen in sich auf. Bei dem Erlernen einer Sprache spielt daher der emotionale, der Gefühlsaspekt eine wichtige Rolle. Die Muttersprache ist die Sprache des Herzens. Daher legt ABCM Wert auf Fachpersonal, das in seiner Muttersprache unterrichten kann.

Dieser pädagogische Ansatz setzt viel Koordinationsarbeit voraus. Vorbereitende Übungen fürs Lesen und Schreiben werden in französisch angeboten; Heranführung an Mathematik und Logik in deutsch. Alle anderen Angebote: Geschichten und Märchen, Gesang, motorische Übungen, Malen und Gestalten, werden von beiden Erzieherinnen jeweils in ihrer Sprache angeboten. Diese Angebote haben den großen Vorteil, das Erleben des Körpers, die Vorstellungskraft und die Kreativität mit einzubeziehen. Der Stuhlkreis ermöglicht eine sprachlich individuelle Begrüßung. Die verschiedenen pädagogischen Themen werden von den Erzieherinnen untereinander abgestimmt. Das Kind soll die Thematik zunächst erleben, damit sich dann ein gemeinsames Projekt entwickeln kann. Das Thema "Frühling" zum Beispiel hat die französische Erzieherin genutzt, um mit den Kindern Pflanzen, Blumen und Bäume zu entdecken, während die deutsche Erzieherin das Thema Insekten damit verbunden hat. Nach und nach haben die Kinder dann beobachtet, wie Insekten und Pflanzen zusammen leben und daraus ist schließlich ein musikalisches Schauspiel entstanden.

Die verschiedenen Feste sind auch immer eine Gelegenheit, sich der jeweils anderen Kultur zu nähern. Für die Erzieherinnen ist es die Chance, ihre Talente zu zeigen. Um Sankt Martin zum Beispiel arbeitet die französische Erzieherin mit den Kindern am Thema "Licht", das Martinsfest aber wird von den deutschen Erzieherinnen organisiert.

Sehr wichtig sind auch die Teambesprechungen. Einmal pro Woche gibt es die Gelegenheit, sich auszutauschen: Über die Kinder, ihre Reaktionen und auch über das eigenen Erleben , die Fragen jedes Mitarbeiters und die Teilnahme der Eltern; deren Unterstützung der Kinder unabdinglich ist.

Was wird von den Eltern erwartet?

Jeder soll möglichst seine Muttersprache im Umgang mit den Kindern benutzen, vor allem in Familien, wo die Eltern verschiedener Nationalität sind. Die zweite Sprache muss den nötigen Raum und Sinn im Familienleben haben. Die Fortschritte des Kindes wollen aktiv begleitet werden. Zu Anfang braucht es auch etwas Geduld, weil ein Kind eine Sprache zunächst nur versteht und erst später sprechen lernt.

Die Aussichten (welche Perspektiven zeichnen sich ab)?

Wir stellen fest, dass Kinder mit zweisprachiger Erziehung nach der Grundschule allgemein bessere Schulergebnisse erzielen. Sie sind bessere Leser, weil sie sich beim Lesen mehr auf den Sinn als auf den Klang konzentrieren. Sie erlernen leichter weitere Fremdsprachen. Sie sind kulturell interessiert und offen für Begegnungen, was wiederum den Wissensdurst und auch die Toleranz fördert. Sie entwickeln früh die Fähigkeit zur Abstraktion, wenn sie begreifen, dass die Verbindung zwischen einem Wort (signifiant) und seinem Sinn (signifié) eine willkürliche ist und dass verschiedene Wörter den gleichen Sinn haben können. Sie sind intellektuell wendig und entwickeln viele verschiedene Lernstrategien.

Was können wir über die Bilingualität von Kindern mit Immigrationshintergrund sagen ?

Straßburg ist eine Stadt mit einer starken Einwanderungsrate. Statistisch gesehen sind die Einwohner von Straßburg die jüngsten in ganz Frankreich. Wir haben den größten Anteil türkischer Mitbürger, aber auch sehr viele Nordafrikaner und ansässige Zigeuner, die aber oft noch in Wohnwagenlagern leben. Es besteht der politische Wille, diese Menschen zu integrieren, einmal durch finanzielle und soziale Hilfen, aber auch durch erfolgreichen Schulbesuch, dessen erstes Ziel es ist, den Kindern die Möglichkeit zu geben, die französische Sprache korrekt zu beherrschen.

So wird zum Beispiel angeregt, die Kinder schon mit zwei Jahren in die "Ecole Maternelle" aufzunehmen, da man festgestellt hat, dass sie beim Eintritt in die Grundschule sonst oft nur sehr schlecht französisch sprechen und deshalb von Anfang an große Schwierigkeiten haben, Lesen und Schreiben zu lernen. Régine Faure hat dieses Phänomen als sémilinguisme (Halbsprachigkeit) oder bilinguisme soustractif (substraktive Zweisprachigkeit) bezeichnet.

Diese Situation hat verschiedene Gründe, unter anderem lässt sich anführen:

· Die psychosoziale und wirtschaftliche Armut dieser Menschen, die sie von anderen isoliert.

· Eine große Unwissenheit, was die Schulkultur angeht. Oftmals haben die Eltern selbst nur schlechte Erfahrungen mit der Schule gemacht und sind daher sehr misstrauisch.

· Für die Kinder der Zwang, zwischen zwei Kulturen wählen zu müssen.

· Und schließlich, eine große Unsicherheit durch den Verlust von eigenen Werten, da außerhalb der Familie die Muttersprache häufig abgewertet und manchmal sogar verleugnet wird.

Was ist unser Projekt in diesem Bereich?

Wir wollen eine Brücke schlagen, eine Kontinuität schaffen zwischen der Familie und der Ecole Maternelle, damit die Kinder eine positive Bilingualität entwickeln können. Die Stadt Straßburg orientiert ihr Vorgehen an dem Modell "Maison Verte", dass in Frankreich von der Psychologin und Psychoanalytikerin Françoise Dolto entwickelt wurde. Dabei handelt es sich um Begegnungsstätten, wo Eltern, Großeltern und Tagesmütter sich treffen und austauschen können. Diese Einrichtungen heißen bei uns offiziell "Lieu d'accueil Parent - Enfants". Das könnte man in etwa übersetzen mit: "Begegnungsorte für Eltern und Kinder".

Diese Orte oder Einrichtungen haben sich mehrere Ziele gesetzt:

· Erstens, die Bestätigung und Unterstützung von Vater und Mutter in ihrer Elternrolle.

· Zweitens, dazu beizutragen, Risiken in der Früherziehung vorzubeugen.

· Und drittens, die schulische Integration zu fördern.

Dabei handeln wir nach drei Grundprinzipien:

· Die Anonymität der Besucher wird garantiert ; nur ein Vorname wird jeweils erfragt.

· Es herrscht völlige Besuchsfreiheit; jeder kann kommen und gehen wie er möchte.

· Kinder müssen von einem ihnen nahe stehenden Erwachsenen begleitet werden.

Diese Regeln ermöglichen es, viele Familien mit einzubeziehen, vor allem auch Familien, die sich vor den offiziellen Sozialämtern scheuen.

Vier Ziele:

· Erstens, die Eltern sollen ermutigt werden, sich aktiv in der Erziehungsarbeit zu engagieren. Eine ausgebildete Erzieherin hilft den Eltern ihre erzieherische Verantwortlichkeit nach und nach zu begreifen und zu akzeptieren. Ihre Aufgabe ist es zu unterstützen, Vertrauen zu schaffen und Vater und Mutter in ihrer Rolle als Eltern zu ermutigen. Sie schafft Möglichkeiten für positive Begegnungen zwischen Eltern und ihren Kindern.

· Ein zweites Ziel ist es, Mutter und Kind behutsam auf spätere unumgängliche Trennungen vorzubereiten. Das Kind wird ermutigt, seine Umgebung zu erkunden, und sich mit anderen Kindern und auch Erwachsenen in Begegnungen und gemeinsame Spiele einzulassen; immer im Beisein seines Elternteils, aber mit einer nach und nach wachsenden Distanz.

· Drittens soll die allgemeine Entwicklung und die Differenzierung der Persönlichkeit des Kindes gefördert werden.

· Und schließlich soll durch den Kontakt zwischen den Familien die Verbindung zwischen verschiedenen Kulturen angeregt und erleichtert werden.

Indem wir uns auf die Kompetenzen der Eltern einerseits und die Fähigkeiten aber auch die Bedürfnisse der Kinder andererseits stützen, wollen wir das "Sagen" mit dem konkreten "Tun" verbinden. Wir schreiben nicht vor, wir bieten vielmehr an, mit dem Ziel, gemeinsames Sein und Tun zu erleichtern. Im Rahmen unseres Ziels, Brücken zu schlagen zwischen Schule und Familie haben wir unter anderem zweisprachige Spiele erfunden und hergestellt. Es sollten Spiele sein, die in beiden Kulturen Sinn machen. Es musste auch möglich sein, ein Spiel ebenso gut in der Schule wie in der Familie oder im Lieu d'accueil parents-enfants spielen zu können. Das Spiel musste also "wandern" können, das heißt, es musste leicht zu transportieren sein. Es sollte besondere Beziehungen fördern, ob zwischen Mutter und Kind, den Kindern untereinander oder zwischen Lehrern oder Erziehern und Schülern.

Durch diese Arbeit wollen wir das Interesse der Eltern anregen, ihnen Gelegenheit zum Austausch geben und sie "spielen" selbst wieder erleben lassen.

Die Studenten unsere Schule haben sich diesem Projekt angeschlossen. Ich habe zwei dieser Objekte mitgebracht: Einen türkisch-französischen Spielteppich und ein arabischfranzösisches Liederbuch. Während der Herstellung des Spiels haben wir gemeinsam mit den Müttern unsere eigenen Sinneswahrnehmungen und deren Wichtigkeit wiederentdeckt. Wir haben mit verschiedenen Stoffen und Materialien experimentiert, uns über unsere Kulturen unterhalten und viel gelacht.

Vorstellung des Teppichs und des Liederbuchs

Mit der Herstellung des Spiels war unser Projekt aber nicht beendet. Jede Mutter hat nämlich gemeinsam mit der Erzieherin die Schulklasse ihres Kindes besucht, um das Spiel vorzustellen und zu erklären. Die verschiedenen Schulen waren im Vorfeld über das Projekt informiert worden. Sie haben sich sehr interessiert gezeigt. Für die meisten Mütter war es ihr erster Besuch in der Schule ihres Kindes. Der Teppich wird sehr viel benutzt. Der Rektor unserer Akademie hat von einer Sonderklasse, in der Kinder mit großen Schulschwierigkeiten betreut werden, zehn weitere Teppiche herstellen lassen. Dabei haben viele türkische Mädchen ein Interesse an den Tag gelegt, das ihrer Handarbeitslehrerin bis dahin völlig fremd war.

Nach und nach schaffen die Erzieherinnen des Lieu d'accueil parents-enfants immer neue Kontakte mit den Schulen:

· Sie organisieren zum Beispiel ein "Austauschcafé" mit Müttern, in der Schule.

· Sie leisten schulische Beratung und Begleitung der Eltern, geben aber niemals direkten Nachhilfeunterricht. Sie helfen Eltern, sich mit den schulischen Gebräuchen vertraut zu machen, erklären zum Beispiel, wie ein Hausaufgabenheft funktioniert.

Kinder wachsen nicht nur in einer Familie, sondern auch in einer Gesellschaft auf. Ein Teil des Erziehungsarbeit kommt also auch der Gesellschaft und uns Erzieher als seine Vertreter zu. In diesem Sinne schenke ich ihnen dieses afrikanisches Sprichwort:

"Man braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen". Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

| 1.1.2006